Ein Tag in Medellin – die Geschichte einer Wiedergeburt

Um aus dem einen Tag, den ich nur in Medellin verbracht habe, das meiste rauszuholen, habe ich mich bei der vierstündigen Free Walking Tour von Real City angemeldet, die von verschiedenen Reisebloggern und auf TripAdvisor in den höchsten Tönen angepriesen wurde und im Nachhinein kann ich jetzt sagen, absolut zurecht! Denn ich habe schon viele solche Führungen in verschiedenen Städten mitgemacht und war oft begeistert, aber die Art, wie der liebe Julio, der genauso alt ist wie ich, eigentlich Grundschullehramt studiert hat, jetzt aber lieber Vollzeit-Stadtführer ist, uns seine Heimatstadt und deren wirklich einzigartige Geschichte nahe gebracht hat, sucht seines Gleichen.

Die Liebe zu seiner Heimat, aber auch die ambivalente Art der Kolumbianer, ein sehr selektives Gedächtnis zu haben, was die eigene blutige Geschichte angeht, damit sie heute ein so glücklicher Menschenschlag sein können, hat er uns rhetorisch versiert und spielerisch pädagogisch auf dem Weg zwischen den Hauptsehenswürdigkeiten und geschichtsträchtigsten Orten nahe gebracht. Dabei hat er im Gegensatz zu vielen anderen ganz klar Stellung gegen den hiesigen Drogenbaron, der im Endeffekt zwischen den 70er und 90er Jahren im Alleingang das erste und größte Drogenkartell der Welt aufgebaut hat und Medellín Anfang der 90er Jahren zu der gefährlichsten Stadt der Welt mit 348 Toten auf 100.000 Einwohner gemacht hat, bezogen und die Heldenverehrung der jungen Generation, die sein Konterfeit auf T-Shirts druckt, auf die glorifizierte Darstellung einer sehr beliebten Netflix-Serie geschoben. Dabei hat er es fast wie die bei Lord Voldemort vermieden, überhaupt dessen Namen in den Mund zu nehmen. Allerdings nicht aus Aberglaube, sondern weil ihm durchaus bewusst war, dass alle umstehenden Kolumbianer von seinen Ausführungen in hervorragendem und fließendem Englisch nur diesen Namen verstehen würden und sich sicher fragen würden, welches Narrativ er den Touristen präsentiert.

Wie eine Serie mit vier Episoden hat er seine Stadtführung in Ursprung, Wachstum, Tragödie und Wiederaufbau/Wiedergeburt eingeteilt. Bei den ersten beiden war ihm deutlich sein Stolz darauf, ein Paisa zu sein, anzumerken, bei der Dritten seine persönliche Betroffenheit, wie er als fünfjähriger den ersten Bombenanschlag miterleben musste, um sich ab dann viele Jahre nicht mehr aus dem Haus zu trauen und bei der vierten die Dankbarkeit, Teil dieses außergewöhnlichen urbanen Wandels gewesen zu sein und als Junge aus dem gefährlichsten und heruntergekommensten Viertel der Stadt plötzlich Zugriff auf Bibliotheken und Bildung gehabt zu haben, der es ihm ermöglicht hat, zu studieren, in die USA auszuwandern, dort als Grundschullehrer zu arbeiten und eigentlich in den Augen seines ganzen Umfelds den amerikanischen Traum zu leben. Trotzdem ist er nach Medellín zurückgekehrt, weil er die Lebensart liebt und obwohl Medellín immer noch große Probleme hat, gab er unserer Touristengruppe, die zum Großteil aus reichen bzw. zumindest weit entwickelten Ländern stammte, am Ende der Tour den hoffnungsvollen Rat, aufgrund der momentanen weltpolitischen Situation nie den Kopf in den Sand zu stecken, denn wenn einer Stadt wie Medellín die Wiedergeburt gelingt, gibt es für uns alle Hoffnung. Chapeau, Julio!!!

Nach der Tour habe ich mich auf den Weg zum Flughafen gemacht, wo ich die Mädels wieder in Empfang nehmen durfte, die ja ein bisschen mehr Zeit in Medellin verbracht haben. Besonders schön fand ich, dass sie ebenfalls hellauf begeistert von dieser Stadt waren und besonders von der Tour, die sie durch die Comunidad 13, in der mein Guide Julio aufgewachsen ist, geschwärmt haben. Ihnen wurde dabei die Bedeutung der vielen zwar wunderschönen, aber eben auch oft blutigen, zur Stadt passenden Grafittis erklärt, sie haben Breakdancer bewundert und durften einer kreativen Rapcrew ihr spanisches Lieblingswort sagen, das dann in einen Song eingebaut wurde. Emma hat das Spektakel gefilmt und mir gestern Abend nach der Ankunft in Cartagena mit Hilfe ihrer kleinen JPL-Box im Hotelzimmer vorgespielt. Das Lied war so cool, dass wir alle wild tanzen mussten. Bei Emmas Lieblingswort „Pollo“ (Hühnchen) musste ich schon über den Kontext schmunzeln, bei der Verwendung Sophies Lieblingswort „Baño“ (Klo) lag ich vor Lachen auf dem Boden. So waren wir uns wiedervereint einig, dass Medellín eine ganz besondere Stadt ist.

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